Rick, der Träumer vom fernen Land. Ein Märchen für Auswanderer & Abenteurer

Das Meer

Es war einmal vor langer, langer Zeit ein kleiner Junge namens Rick, der träumte von einem fernen Land. Rick nannten ihn seine Mutter und sein Vater. Wenn er einen Ausweis gebraucht hätte, hätte darin gestanden Rickardios aus Tzitakki, Sohn des Anaxagretes Flachnase. Aber er brauchte keinen, er wusste es ja auch so. Papas gerade Nase fiel überall auf, weil im Stamm alle eine Hakennase hatten. Bevor Rick geboren wurde, galt Papa im Stamm als Sonderling, mit der Nase und so. Aber dann heiratete er Ricks Mama, Myope, nach der sich jeder den Hals verdrehte, und dann – ach was soll’s!, dann sollte es halt so sein. Wenn einer im Dorfkrug maulte „… gerade der mit seiner ausländischen Nase!“, bekam er einen Knuff in die Seite und ließ es bleiben.

So war das mit Rick. Eines Morgens wachte er auf und hatte eine fremdartige Idee im Kopf. Was er auch tat, sie blieb und ließ ihn nicht los. Er hatte noch nie zuvor von einem so fernen Land reden hören. Keiner aus seiner Stadt kannte dieses Land. Er erzählte seinen Traum Mama, die strich ihm über den Kopf und sagte nichts, da war es erst einmal gut.

Wenn Markt war, kamen sie alle und klappten ihre Tische auf: die Bauern, die Gemüsehändler, die Gewürzhändler, die Schlachter, die Käsehändler. Und sie redeten!, meine Güte, was sie nicht alles beredeten. Übers Wetter. Über die Nachbarn. Wie man sich die Augenlider färbt. Wie man den besten Feta herstellt. Nochmal über die Nachbarn. Aber keiner sprach von einem Land jenseits des Südkontinents, jenseits des Meeres. Und dennoch … wenn unser junger Freund nachts nicht schlafen konnte, dann war dieses Land so wirklich wie der Weg auf den Klippen.

Er glaubte, dass alle Meere von Land umgeben seien, so wie das Meer vor seinem Fenster. Er lebte an der Küste Thrakiens und badete mehrmals in der Woche in dem Meer, das wir heute Mittelmeer nennen.

Junge träumt

Die Jahre vergingen und Rick wuchs der erste Bart. Er träumte immer noch viel und wenn er träumte, dann führte ihn der Traum weiter weg, als Italien oder Ägypten waren. Die Träume waren bunt und duftig und staubig und zischisch, dass er sich etwas überlegen musste, um als Fischerjunge in dem Dorf gut auszukommen. Denn die Alten seines Dorfes sahen es nicht gern, wenn er nachts in den Sternenhimmel schaute oder am Tag, statt zu fischen, Sonne und Wellen beobachtete.

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Ich weiß, erst hatte ich gesagt, dass Rick in einer Stadt lebte, dann ist es ein Dorf. Das liegt daran, dass die griechichen Städte so klein waren, dass man sie als Dorf bezeichen könnte, wenn man einmal die Hauptstadt von Ägpyten gesehen hat. Aber ach, ich greife vor! Also der Reihe nach!

Als Rickardios groß war, ging er nach Ägypten. Nein, so einfach wie heuzutage eine Busfahrt von Berlin nach Paris ging das nicht, darum redete er zuerst mit Mama. Mama hatte dann Abend für Abend mit Papa geredet – und er musste ins Bett, er konnte ihnen nicht zuhören, wo er doch so neugierig war! Zu schade! Dann buk Mama Ricks Lieblingskuchen (der auch Opas Lieblingskuchen war) und ging mit dem Kuchen zu ihrem Vater. Als sie wiederkam, brachte sie Rick ein kleines Stück mit und lächelte vergnügt. Zwei Esel wurden verkauft, eine von Myokes Ketten, dann ging Anaxagretes zum Bankier. Als er rauskam, hatte er einen prall gefüllten Beutel mit Münzen in der Hand und lächelte verschmitzt. Jetzt ist es endlich so weit: Rickardios zog sich ein sauberes Hemd an, ölte sich den schwarzen Bart, ging zum Hafen und bestieg ein Schiff nach Ägypten.

Ein Studium in Äypten! Stell dir das vor! Das war so, wie wenn heute jemand einen Abschluss in Harvard macht. Mathematik studierte er, denn auf Zahlen basiert so vieles. Astronomie und Astrologie studierte er, denn der Himmel galt als Abbild der Erde: Kannst du den Himmel lesen, liest du die geheimen Gesetze der Menschen. Er studierte außerdem Philosophie. Warum bloß? Philosophie war damals die Kunst des Denkens.

Ich vermute, er hatte außerdem kapiert, dass sich ein Philosoph fast alles erlauben konnte. Als er wieder daheim war und sein Diplom an die Wand gehängt hatte, erklärte er seinen Leuten die fernen Länder. Die Nachbarn verstanden nur Bahnhof, sie guckten schon argwöhnisch. Dann sagt er „Übrigens, meine Herren Olivenbauern, ich bin Philosoph“, und alles löste sich in Wohlgefallen auf. Er durfte seltsames Zeug reden, das keiner versteht. Die Olivenbauern nickten von jetzt an (zwar immer noch etwas desorientiert, aber) fröhlich, wenn er sie beim Raki unterbrach und vom Land am Ende der Welt redete.

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Eines Tages wollte es jedoch der kleine Junge vom Nachbarhof genau wissen. Was ist hinter dem Meer? Er fragte den Ptolemäus Löcher in den Bauch, bis Ptolemäus es ihm erzählte. Die Erde ist eine große Kugel, das wusste man schon lange. Weit weg im Süden liegt ein Land jenseits des Meeres, das Alexander der Große von Indien aus befahren hatte, das bleibt unser Geheimnis.

– Gut, ja, ich … Was hast du da gerade gesagt?? Noch weiter weg als Alexander gezogen war?
– Ja, noch weiter weg. Dieses südliche Land musste es geben. Es war völlig unbekannt, keiner war je da!
– Was macht dich dann so sicher, dass dort Land ist, wenn noch nie jemand dort war?
– Ich habe es ausgerechnet, dass … ach, hm, ich zeige dir meine Berechnungen, wenn du zuerst ausrechnest, wie lange die Schwalbe vom Felsen dort nach Ägypten fliegt.

Dafür musste der Kleine noch viel lernen. Diese Zahlen! Ein seltsamer Name war das: „Unbekanntes Land im Süden“, so viel stand mal fest. Wie sonst sollte man bitteschön ein Land nennen, das keinen Namen hatte? Es hatte keinen, weil noch niemand dort war.

Und noch etwas ereignete sich zu dieser Zeit: Andere Träumer begannen, angesteckt von Ricks Ideen, Karten dieses fernen Landes zu zeichnen. Später gab es andere Herrscher, unruhige Zeiten – die Karten gingen verloren oder verbrannten. Alle, bis auf eine. Ein kleiner Junge hatte sie von seinem Großvater geschenkt bekommen, so wie der sie von seinem bekommen hatte und der von seinem. Und der, so erzählte der Großvater dem Enkel, hatte sie selbst gezeichnet, als er im Studierzimmer von Rick saß und seine Berechnungen prüfte.

Weltkarte
eine alte Weltkarte

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700 Jahre später hörte ein Wanderer abends im Hafen in der Kneipe am Nachbartisch die Geschichte von Rickardios dem Kartenzeichner aus Tzitakki. Ein sagenhaftes Land im Süden … und der Wanderer wusste: Der, der damit angefangen hatte, war der erste Auswanderer der Weltgeschichte. Und er wollte unbedingt mehr über das Land erfahren. Er suchte in alten Bibliotheken, in den Klöstern in den Bergen, sogar beim Papst fragte er nach. Und wieder löste sein Fragen und Suchen eine Welle aus: Kartografen seiner Zeit hörten die alten Geschichten und zeichneten neue Karten.

Ob sie viel mit den alten gemeinsam hatten? Das bleibt ihr Geheimnis.

Sie trugen in ihre Weltkarten den sagenumwobenen Südkontinent ein, der sich vom Indischen Ozean bis zum Südpol erstreckte. Manche versahen diese Landmasse noch mit Eintragungen von Gebirgen und Flüssen oder mit Fabelwesen. In das Land, das sie nicht kannten, setzten sie seltsame Wesen, die es nirgends in der bekannten Welt gab und keinen störte es.

In diesen Punkten waren sich die Kartenzeichner einig: Es handelte sich um einen Kontinent mit angenehmem, warmem Klima, das Land war reich an Bodenschätzen und in ihm lebte eine zivilisierte Bevölkerung. Zu der könnte man Handelsbeziehungen aufbauen, wenn, ja wenn jemand losfahren und sie finden würde.

Aber sie fuhren nicht los, das war ihnen zu gefährlich. Sie legten ihre Karten in den Schrank und träumten von dem fernen Land, wenn sie vorm Haus in der Abendsonne saßen.

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1492 landete ein Italiener auf einer Insel, er rückte seine Samtmütze zurecht, strich sich eine kleine braune Locke aus der Stirn, sah sich um und grinste. Puh, war das heiß hier! Er nannte das Land Amerika. Das Amerika lag zwar im Westen (wo es eigentlich gar kein Land geben dürfte, wenn man den alten Leuten geglaubt hätte). Und das Land, von dem der Grieche geträumt hatte, war im Süden. Dennoch war schlagartig das Interesse an unentdeckten Kontinenten wieder da. Und dieses mal machten die Leute ernst: Sie legten die Karten nicht wieder in den Schrank, sondern sie heuerten Mannschaften an, trieben Geld auf und fuhren los. Nach Indien, in den Osten. Nach Indien, in den Westen. Und auch nach Süden.

So glaubte Magellan, als er 1520 Südamerika umfuhr, er hätte Ricks sagenhaften Südkontinent gefunden. Als er den südlichsten Zipfel von Südamerika erreicht hatte, drehte er Südamerika den Rücken zu und sah vor sich ein anderes Land: Das musste der unbekannte Südkontinent sein! Magellan war so stolz, dass er die Meerenge Magellanstraße nannte. Später stellte sich raus, dass es nur Inseln waren, der unbekannte Kontinent war wieder entwischt.

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Am 3. Mai 1606 erreichte Pedro Fernández de Quirós die Inselgruppe der Neuen Hebriden. Eine Insel davon war riesig! Also ist es keine Insel, erklärte Pedro, sondern das ist der Südkontinent und wir haben – hm, nein, besser: Ich habe ihn gefunden! Die Mannschaft nickte, ihr war es wurscht, solange es was zu trinken gab. Er spendierte ein ganzes Fass, so vergnügt war er und fürs erste war der Südkontinent „entdeckt“. Aber was war mit den Fabelwesen? Mit den Bodenschätzen? Die gab es dort nicht. Also musste man woanders suchen. Man suchte lange. Aber das Land war nicht zu finden.

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Dann kam 200 Jahre später noch einer, der suchte und suchte und fand lauter Sachen, die er nicht für möglich gehalten hatte. So ist das, wenn man Neues entdeckt. Der Mann hieß James Cook. Seine Reiseberichte und Funde sind umwerfend: Seekarten von Nordamerika, astronomische Berechnungen, Karten der Südsee. Einigen gefielen sie aber gar nicht. Erinnerst du dich an die alten Leute? Die Olivenbauern von damals, die saßen jetzt in London und in Amsterdam. Sie trugen Perücken und nörgelten übers Wetter, über die große See und dass Seefahrer zu doll spinnen. SIE lasen seinen Bericht und erkannten naserümpfend, dass der gesuchte sagenhafte Südkontinent nicht existiert, weil er nicht so groß war, wie sie es sich wünschten. Schöne Schererei! Da war Cook jahrelang durch die Südsee und durch den Pazifik gefahren, hatte durchs Fernrohr geguckt, war an Land gestiefelt, hatte gemessen und gerechnet und den alten Leuten hatte er ihre Teestunde versaut.

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Aber sein Ur-Ur-Ururenkel ging nochmal an Bord eines Schiffes, um nachzusehen, was da so los war. Er traf das Känguru, den Koalabären, er sah einen riesengroßen roten Steinfelsen mitten in einer endlosen Ebene liegen – so, als wäre ein Stück von einem Stern abgebrochen, auf die Erde geknallt und mit einem Donnerschlag tausend Meter in die Erde versenkt. Nur ein Stumpf guckt noch raus. Den kann man heute noch sehen. Heißt Ayers Rock.

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Moral: Hör nie, nie, niemals! auf die Leute, die dir einreden wollen, dass es das Land deiner Träume nicht gibt. Die haben keine Ahnung. Du bist (vermutlich) ein Mensch. Du hast Schöpferkraft. Deine Träume können wirklich werden.

Traumlandschaft