Kulturschock. Die meisten stellen sich darunter etwas vor, das uns überkommt und das wir erleiden müssen: Wenn man später ausgelitten hat, hat man sich angepasst und alles ist wieder gut. Ich schlage eine andere Sichtweise vor: Schockierend sind Sie selbst! Was schockiert, ist die individuelle Sicht auf die Welt. Hier geht es um viel mehr als um Schlagworte.
„Kulturschock“, blödes Wort! Schockierend sind Sie selbst: die eigene Einzigartigkeit
„Kulturschock“ ist ein unglücklich gewählter Begriff! Ich schlage eine ganz andere Sichtweise als üblich vor: Der Schock ist die Verunsicherung, weil die eigene Weltsicht für niemanden sonst verbindlich ist. Schockierend ist die eigene Einzigartigkeit: Die eigene Individualität. Keine Weltbeschreibung ist objektiv „wahr“ – jede könnte auch anders sein. Der naive Glaube heißt: ich habe recht. Schockierend ist: andere haben auch recht. Das Recht auf individuelle Weltsicht. Das gilt für Einzelne und für Stämme, Kulturen, Länder. Wissenschaftlich geht es um Kontingenz und kontingente Beschreibungen.
Im folgenden Artikel geht es um Fragen wie:
- Kulturschock – was ist das?
- Wie geht er vor sich?
- Wie nutzen Sie den Schock? (Ja, das ist möglich)
- Wie können Sie die Phänomene abmildern, wenn Sie den Eindruck haben, die Welt nicht mehr zu verstehen?
Der Urlauber geht ins Ausland und alles ist fein. Nach zwei Wochen packt er seine Koffer und fliegt wieder nach Deutschland. Der Auswanderer geht ins Ausland und alles ist fein. Nach zwei Wochen freut er sich, dass er länger bleiben kann. Nach einem Monat wird es chaotisch: Alles ist neu! Alles ist so fremd! Nach zwei Monaten glaubt er, er hat sein Leben im Griff. War doch gar nicht so schwer! 🙂 Und irgendwann fragt er sich, worauf er sich da eigentlich eingelassen hat.
Die „Experten“, die es heute überall gibt, sagen dazu, dass er einen Kulturschock erlitten hat. Meist bleibt es ein Schlagwort. Ich will es hier aufgreifen und ihm eine neue Bedeutung geben, eine, die Ihnen auch sagt, was Sie tun können, wie Sie handlungsfähig bleiben.
Vor mir die Welt – so treibt mich der Wind des Lebens.
Hans Albers, „La Paloma adè“
Wein‘ nicht, mein Kind, die Tränen, die sind vergebens. …
Kulturschock und Verliebtsein – immer die gleichen Probleme und immer die gleichen Chancen
Hier der tabellarische Kurzüberblick, ausführlicher in Teil 2.
Kulturschock | Verliebtsein |
---|---|
1. Phase: Verliebt in das fremde Land. Alles ist wie Urlaub. Endlich am Ziel! Das Neue ist wundervoll, frisch, besser als in Deutschland. | Verliebt in den perfekten Partner. Die Zeit der rosaroten Brille. Die Partnerin bzw. der Partner ist vollkommen, Schattenseiten hat er/ sie keine. |
2. Phase: Ernüchterung: Alles wird nüchterner gewogen. Das Umfeld ist fremd. Einfachste Abläufe werden kompliziert. | Ernüchterung: Das Verliebtheitsgefühl schwindet. Man nimmt den Partner genauer unter die Lupe und entdeckt Eigenschaften, die nicht gefallen. |
3. Phase: Distanzierung: Zu viele gestörte Routinen. Die automatische Reaktion: Man geht auf Distanz. Negative Werturteile über Land und Leute überwiegen. Das Alte wird idealisiert. | Distanz und Streit: Der Andere (Sie oder Er, in Homo- oder Hetero-Beziehungen) soll so sein wie ich! Streit geht gegen den Anderen, nicht um eine Sache. |
4. Phase: Integration und Selbst-Veränderung: Wir sind soziale Wesen, niemand lebt ohne andere. Menschen werden nur durch Menschen zu Menschen. Zusammenleben heißt, sich auf andere einzustellen, Regeln und Normen zu teilen. | Das Anderssein des Anderen bejahen: Jetzt kann man anfangen, den anderen Menschen zu entdecken und darüber sich selbst. |
Was bedeutet „Kulturschock“?
Definition: Infragestellung der eigenen Überzeugungen lösen existentielle Verunsicherung aus, indem sie die eigenen Beschreibungen als kontingent zeigen.
Erläuterung: Jetzt kriegt die trockene Definition Fleisch auf die Rippen!
Was ist mit „Infragestellung“ gemeint?
Infragestellung, indem die Ansichten, wie die Welt funktioniert, was richtig und wichtig ist, im neuen Umfeld kontrastiert werden. Die bisher fraglos richtige Sicht der Welt wird durch andere, evtl. konträre Sichtweisen ergänzt. Diese Ergänzung ist nicht so überschaubar wie wenn eine blaue Vase neben die rote gestellt wird, sondern die rote Vase (die eigene Weltbeschreibung) wurde als einzig korrekte/ mögliche/ gute geglaubt. Jetzt ist es heraus, sie wurde geglaubt. Es gibt keinen objektiven Maßstab dafür.
Was bedeutet „existentielle Verunsicherung“?
Existentielle Verunsicherung äußert sich psychosomatisch durch Angstanfälle, Stressanfälle, Stimmungsschwankungen, Übelkeit, Bauchschmerzen o.a. Es ist nicht der intellektuelle Zweifel, ob Karl Marx‘ Arbeitsbegriff mit dem von Leo Trotzki kompatibel ist, sondern die Verunsicherung geht ans Eingemachte: Was weiß ich eigentlich über die fremde Welt? Was weiß ich und was glaubte ich nur? Bin ich noch ein guter Junge/ gutes Mädchen? – Das klingt, als ob die Fragen wenig mit der Sache (Auswandern, Kultur) zu tun haben? Richtig, das sind nur Trigger, es geht ums eigene Weltbild. Und es klingt, als würde ein Kleinkind ängstlich in der Ecke sitzen und die Welt nicht verstehen? Richtig, denn die Grundstrategien zum biologischen Überleben wurden in der frühesten Kindheit geprägt. Psychologen sprechen von Regression; siehe Wikipedia.
Wir reden in anderen Fällen nicht von Kulturschock, aber die Phänomene existentieller Verunsicherung sind ähnlich und können hilfreich sein: In Lebenskrisen – Schwangerschaft, Unfall, Arbeitslosigkeit, Tod eines Angehörigen, in spirituellen Systemen. Der Wegfall der Schein-Sicherheiten kann auch befreiend sein.
Was ist mit „Überzeugng“ gemeint?
Überzeugungen: Set von für wahr gehaltenen Beschreibungen über sich selbst und die Welt. Niemand hat eine isolierte einzelne Überzeugung, denn die Psyche ist kein Setzkasten. Jede Annahme über die Welt hängt mit anderen zusammen. Das ist wichtig, wenn man überlegt, wie man eine disfunktionale Überzeugung, die einem nicht hilft, verändert.
Was bedeutet „Kontingenz“?
Kontingenz: Kontingent nennt man in der Soziologie Beschreibungen, die auch anders möglich sind. Dass etwas kontingent ist, verweist auf die die prinzipielle Offenheit für andere Beschreibungen und auf die vielen Ungewissheiten und Uneindeutigkeiten des Lebens. „Kontingenz ist etwas, was weder notwendig ist noch unmöglich ist; was also so, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist. Der Begriff bezeichnet mithin Gegebenes (zu Erfahrendes, Erwartetes, Gedachtes, Phantasiertes) im Hinblick auf mögliches Anderssein; er bezeichnet Gegenstände im Horizont möglicher Abwandlungen.“ (Niklas Luhmann, „Soziale Systeme“)
Unsere Beschreibungen der Welt sind kontingent. Immer. Das trifft schon auf die Wahrnehmung zu und wurde durch die Wahrnehmungspsychologie untersucht. Das trifft aber auch auf alle Ansichten, Urteile und Überzeugungen zu. Und das ist der interessante Teil: die kontingenten Modelle der Welt. Das ist das Vakuum der Moderne. Anscheinend kann niemand dieses Vakuum füllen, und dass der Lebensweg der westlichen Demokratien kontingent ist, macht unsere Regierungen verrückt. Terrorismus, Multikulturalismus, Umweltzerstörung – überall Gefahren, nirgends Sicherheit. – Ok, bevor es zu weit führt: Wir bleiben vorerst beim Einzelnen.
Ein Individuum kann den Wald so oder so wahrnehmen: Einer sieht das frisch geschlagene Holz am Wegesrand und kalkuliert den Gewinn daraus, ein anderer freut sich über die Idylle und das Vogelgezwitscher. Keiner kann von sich behaupten, seine Wahrnehmung sei die einzig mögliche und richtige.
Kontingenz ist etwas anderes als Beliebigkeit
Der Unterschied zur Beliebigkeit ist folgender: Was beliebig ist, kann verändert werden, ohne dass es einen Unterschied macht.
Ob mein Nachbar Möhren oder Zwiebeln anpflanzt: Mir doch egal! Es macht keinen Unterschied für mich – es ist beliebig. Für ihn ist die Frage höchstens kontingent, und darum plant er die Bepflanzung unter Berücksichtigung der Fruchtfolge.
Wenn ich mich nicht für Fußball interessiere, sind mir die Ergebnisse der gestrigen Champions League Spiele völlig egal: Sie sind beliebig. Wenn ich mich für Fußball begeistere, einen Spieltag verpasst habe und die Zeitung gerade aus dem Briefkasten hole, sind die Ergebnisse (noch) kontingent: Ich kann nur vermuten und hoffen, dass der TSV Lehmke Suderburg richtig abserviert hat. Aber es ist auch möglich, dass Lehmke unterlegen war. Der Blick in die Tabelle hilft dann, den Zustand der Ungewissheit (Kontingenz) loszuwerden und Gewissheit zu erlangen.
Wie wird das Wetter morgen? Die Prognose sagt 10 Grad und sonnig, aber es können auch 13 Grad mit einigen Wolken werden. Die Auskunft ist kontingent. Egal ist der Wetterbericht für jemanden, der eh den ganzen Tag im Büro ist.
Keiner kann von sich behaupten, seine Wahrnehmung sei die einzig mögliche und richtige. Diese Tatsache wird häufig überspielt: Wir suchen uns meist das soziale Umfeld, wo wir Bestätigung für unsere Überzeugungen finden. Mit dem Auswandern verlässt man das soziale Umfeld und Bam!, steht man alleine da und die alten Gewissheiten über die Welt sind bei der Passkontrolle hängen geblieben. Das ist der berüchtigte Kulturschock. Menschen, die mehr als 12 Monate im Ausland leben, durchleben mitunter Stimmungstiefs, bekommen Heimweh, alles ist fremd um sie herum.
Kontinuität der Persönlichkeit wird in Frage gestellt
Ist der Kulturschock eigentlich abhängig von einer Region? Darauf gehe ich im zweiten Teil noch gesondert ein. Hier nur soviel: Niemand ist gegen Kulturschock immun. Warum? Weil die Kontinuität der Persönlichkeit in Frage gestellt wird. Das ist das Entscheidende!
Eine Statue mit 2 verschiedenen Gesichtern drückt die Gefahr aus, die Identität zu verlieren. Der Volksmund kennt es: Das Gesicht zu verlieren, gilt als das Schlimmste, was einem geschehen kann.
Kulturschock in vier Schritten
Sehen wir uns den „Kulturschock“ im Zeitverlauf an, um die Vorbereitung und die kritische Phase unterscheiden zu können.
1. Phase: Euphorie. Verliebt ins neue Land!
Es gibt viel Neues zu entdecken, alles ist wie Urlaub. Es ist geschafft, man ist am Ziel! Und es ist viel zu tun! Für eine nüchterne Betrachtung der Umstände ist keine Zeit. Die Vorteile überwiegen, Negatives gibt es nicht. Es ist wie wenn man frisch verliebt ist. Alles Neue ist faszinierend, wunderbar, frisch, originell, … besser als in Deutschland.
2. Phase: Ernüchterung. So ein Sauladen hier!
Dann kommt die Phase der Ernüchterung. Die Schmetterlinge im Bauch verfliegen, alles wird nüchterner gewogen und siehe da: Da gibt es Sachen, die einem gar nicht passen.
Im Urlaub war es herrlich, vom Pizzabäcker Luigi begrüßt zu werden, wenn man die Pizzeria betrat. Nun merkt man, dass man die Nachbarn nicht kennt, dass das Italienisch nicht reicht, um mehr zu sagen als „Hallo! Wir kommen aus Deutschland!“. In Thailand sind Trinkkokosnüsse spottbillig, aber ein verdammter Wilkinson Nassrasierer ist nicht zu kriegen. Vielleicht ist es sogar schwierig, mit dem neuen Geld umzugehen. Man rechnet alles in Euro um, um zu wissen, was gut ist – und selbst dann weichen die meisten Artikel vom Erwarteten ab. So werden sogar die einfachsten Abläufe kompliziert.
3. Phase: Distanzierung, Zweifel und Isolation
Zu viel Neues, zu viele gestörte Routinen. Die automatische Reaktion: Man geht auf Distanz. Fährt die Aktivitäten runter, beschränkt sich auf das Nötigste und greift, wo es geht, auf Bekanntes zurück.
Ahnen Sie es? Die Chance zu scheitern ist jetzt zum Greifen nah. Und je mehr Distanz, desto vorhersehbarer wird das Ende. Was anfangs interessant, exotisch und reizvoll erschien, wird jetzt undurchschaubar oder seltsam. Negative Werturteile machen Land und Leute irrational, schrullig, verschroben.
Vergleiche zum Heimatland werden häufig benutzt, um die Heimat zu idealisieren. Heimweh nimmt zu. Heimweh – der Stein auf der Brust des Auswanderers.
4. Phase: Integration. Selbst-Veränderung. Selbstbestimmt leben.
Wir Menschen sind soziale Wesen, niemand lebt isoliert ohne Bezug zu anderen. Schon um als Steppke sprechen und laufen zu lernen, brauchten wir andere Menschen. Und immer, wenn wir mit anderen zusammen sind, stellen wir uns auf sie ein, stellen wir uns auf Regeln und Normen ein. Das ist eine Art von Lernen, sie wird jedoch heutzutage meist „Anpassung“ genannt (ein misslicher Begriff übrigens!).
Wer sein soziales Umfeld wechselt, macht diese Lern- und Integrationserfahrung jedesmal durch – obwohl viele glauben, es würde reichen, dass sie ein einziges mal im Leben gelernt haben, dass sie nur durch andere Menschen leben. Was heißt, das soziale Umfeld zu wechseln? Der eine zieht um, jemand steigt in die Chefetage der Firma auf, ein anderer wird arbeitslos und steigt (sozial) ab. Oder jemand geht ins Ausland.
Auch wer sich für längere Zeit im Ausland befindet, stellt sich auf sein neues Umfeld ein (oder er ging zurück nach Deutschland). Auch nach der Distanzierung in Phase 3 wird man schließlich den Kontakt zu den Einheimischen wieder aufnehmen. Und wer immer das tut – als Aufsteiger, Absteiger oder durch Umzug – verändert sich selbst.
Was kann ich im Vorfeld tun, um den Schock später zu mildern?
Das ist eine sehr gute Frage! Wer sie stellt, zeigt, dass er/ sie es besser machen will als alle, die sich probiert haben und im Ausland gescheitert sind. Früh anzufangen hat den Vorteil, alles wie ein Training anzugehen, denn es ist noch nicht ‚ernst‘. Vielleicht wundern Sie sich: Das liest sich alles recht einfach! Ist es auch. Und es ist so wirksam, dass Sie sich später viel Ärger ersparen.
- sich Ziele setzen und diese erreichen – fangen Sie klein an, z.B. mit Tageszielen, größer geht es später immer
- Flexibilität trainieren
- körperliche Lockerung – fördert die Durchblutung, verbessert die zelluläre Ernährung und die Konzentration
- körperliche Fitness erhöhen – Ausdauer, Belastbarkeit, Stressfestigkeit werden verbessert
- Tagebuch schreiben – die ökologische Art, sich selbst zu organisieren
Was kann ich tun, wenn ich ausgewandert bin oder kurz davor?
In Phase 1 (Euphorie):
Um die rosarote Brille abzusetzen, helfen Fakten. Machen Sie eine Forschungsreise in Ihr Zielland. Wie das geht und was dazugehört, lesen Sie in unserem Ratgeber „Auswandern Schritt für Schritt“.
Fortsetzung im zweiten Teil mit vertiefenden Hinweisen und praktischen Tipps. Da zeige ich, wie sehr sich der Kontakt mit einem anderen Land („Kulturschock“) und der Kontakt mit einem anderen Menschen (Verliebtsein) ähneln.